Wie ich mal wirklich panisch wurde

Zeeland 2014, © Rock Galore
Urlaub. Die schönste Zeit des Jahres. Dieses Jahr in Zeeland, in den Niederlanden, eingeladen von der Schwiegermutter. Dafür war sie dann auch dabei, mich stört das nicht weiter, aber die internationalen Regeln für Ehemänner sehen vor, dass ich diesen Umstand kommentieren muss. Zum Beispiel damit, dass geschenkte Gäule einfach manchmal ein Gebiss aus Schwiegermüttern tragen oder ähnliches. Ich will nicht lügen, es hat nicht nur Vorteile, aber einer ist, dass man quasi immer einen Babysitter zur nahezu freien Verfügung hat und so ging es kinderfrei in die nächstgelegene Stadt. Wir shoppten, wir flanierten und irgendwann beschlossen wir, uns für die erste Krokett des Urlaubs niederzulassen. Ich stand schon einige Minuten in einer mittellangen Reihe, als mein Telefon brummte. Ich telefoniere nicht gern, wenn ich der nächste in der Schlange bin, also bestellte ich, wartete auf unser Essen, setzte mich und hörte danach die Mailbox ab.
Kind1(9) war dran. "Hallo Papa. Kind2(7) ist weg. [Pause] Es wäre besser, wenn ihr sofort zurückruft."


Die Adrenalinproduktion beschleunigt in solchen Situationen vergleichbar mit der eines Formel 1-Boliden. Genau genommen eines Formel 1-Boliden, der von etwas deutlich schnellerem als einem Formel 1-Boliden angeschoben wird. Und diese Beschleunigung wird sogar noch von der Schweißproduktion übertroffen. Ruhe bewahren, zurückrufen.

Kind2(7) hatte eine Freundin gefunden. Ein Mädchen, 1 Jahr jünger. Sie kam täglich mit ihrem kleinen Bruder und ihrem Vater zu einem dieser Verschläge am Strand, die man mieten kann. Kind2(7) war zum Spielen dorthin gegangen, als wir fuhren. Nun war der Verschlag verschlossen, niemand reagierte auf Klopfen, die Kinder sowie der Vater waren fort. "DER IST WEG! ER HAT KIND2(7) MITGENOMMEN!" klang Schwiegermutters Stimme hysterisch, und damit die Situation nicht unbedingt beruhigend, durch eine glasklare Telefonverbindung in mein Ohr.

Ich fragte einiges. Ob das Sandspielzeug noch da war. Der Kescher, mit dem Kind2(7) manchmal ans Meer ging, um mehr oder weniger erfolgreich Krabben rauszufischen, die sie dann mit einem angeekelten Kreischen ins Meer zurückwarf. Ob sie den, zu beiden Seiten etwa 150 Meter reichenden, Strand abgesucht hätten. Ergebnislos. Ich schickte sie zum Turm der Kustwacht am einen Ende des Strandes, um sie vermisst zu melden, sagte, dass wir so schnell wie möglich kommen und wir machten uns auf den Weg. 20 der schrecklichsten Minuten meines Lebens.

Wir schleppten unser Essen durch die Fußgängerzone. Tatsächlich hielt ich es die ganze Zeit in der Hand und warf es erst weg, als ich wieder am Strand war. Parkkarte bezahlen. NIMM JETZT DIE SCHEISSMÜNZE DU DRECKSAUTOMAT ODER ICH SCHWÖRE ICH BRINGE DICH UM! Raus aus dem Parkhaus. Den Weg aus einer vollkommen unbekannten Stadt finden. Hilf mir Siri, bitte! Nur dieses eine mal! Die richtige Straße zum Strand ausmachen.

Die Fahrzeit betrug etwa 10 Minuten. Als die Schilder zeigten, dass wir in der richtigen Richtung unterwegs waren, hatte mein Hirn endlich genug Ressourcen frei, um mir im Sekundentakt Wege vor das innere Auge zu schicken, wie Kind2(7) an diesem gottverdammten Strand ums Leben kommen könnte. Und Schlimmeres. Ich begann zu weinen. Ich versuchte, mehr schlecht als recht, mich zusammenzureißen und bat im Stillen Instanzen, an die ich gar nicht glaube, darum, dass alles gut sei. Die Frau fragte, was Kind2(7) anhatte, als wir gefahren waren. Ich hatte keine Ahnung.

Sie fuhr, deshalb ließ sie mich am Strand raus. Es waren einige Minuten Fußweg vom Parkplatz aus, die Straße war näher, also sparten wir Zeit. Bevor man den Strand sehen konnte musste man noch einen etwa 150 Meter langen Pier entlang. Ich rannte. Ich sah jedes Kind an, dass irgendwie in mein Sichtfeld gelangte. Sie war nicht dabei. Meine Augen waren feucht. Am Ende des Piers geht es um ein kleines Strandrestaurant herum, auf dem Gebäude ist der Turm der Kustwacht, und man geht von der Seite auf den etwa 300 Meter langen Strand. Ich rannte jetzt nicht mehr. Das Wetter war nicht so gut, der Strand daher nicht so voll, ich sah jedes blondgelockte Mädchen an. Wenn deren Eltern mich dabei beobachtet haben, stand ich vermutlich schon mit einem Bein in einem niederländischen Knast. Am anderen Ende des Strandes erspähte ich einen Mann und ein Kind an einem der Verschläge. Etwa 150 Meter noch. Ist das ihr Verschlag? DIE SCHEISSDINGER SEHEN ALLE GLEICH AUS! UND ES SIND HUNDERTE!

Ich lief jetzt wieder, aber ich weinte nicht. Ich brauchte meine Sehfähigkeit. Ein zweites Kind kam aus dem Verschlag. Mir fiel wieder ein, was sie trug. Ein lila T-Shirt, hellgraue Leggins. Ich war noch etwa 50 Meter entfernt, als ich sie erkannte. Sie lief auf mich zu, mit ausgebreiteten Armen, während ich in Super-SlowMo zu einem Hollywoodklischee wurde. Eine Last, die viel größer war als ich selbst, rutschte langsam von meinen Schultern und zog mich mit nach unten, auf die Knie, in den Sand. Sie umarmte mich, ich legte die Arme um sie und schluchzte wie ein Schlosshund. Sie hatte keine Ahnung warum.

Im Nachhinein betrachtet mutet die ganze Aufregung natürlich seltsam an. Und einige von Ihnen werden das auch beim Lesen finden. Der Vater des anderen Mädchens war letztendlich mit den Dreien spazieren gegangen. Er hatte ihr gesagt, sie solle Bescheid sagen, aber sie hatte erwidert, dass sie das nicht müsste. Sie hatten den Strand nie verlassen. Ein 9-jähriger und eine Schwiegermutter "Nein, ich brauche die Brille wirklich nur zum lesen." hatten einfach nicht genau genug hingesehen. Eigentlich albern, außer man ist grade mittendrin. Meistens bin ich ein Ruhepol, dieses Mal war ich panisch. Ich bin in diesen 45 Minuten um etwa 5 Jahre gealtert und ich hoffe ich finde nicht heraus, ob ich beim nächsten Mal ruhiger reagieren würde.

Sie haben vielleicht mit etwas mehr Dramatik gerechnet. Eventuell damit, wie ich meine entführte Tochter aus den Fängen eines internationalen Verbrecherrings rette, wie Liam Neeson in 96 Hours (sehen Sie sich den ruhig mal an). Nein, so war es nicht. Und ehrlich gesagt muss ich da auch ganz egoistisch hoffen, dass ich nie eine spannendere Geschichte zu erzählen haben werde. Dies hier war nur eine ganz normale Elternepisode, wie sie täglich tausendfach geschieht. Oft genauso hysterisch und meistens genauso glimpflich, aber ab und zu eben auch nicht und da, wo das Wissen über dieses "ab und zu" sitzt, da kam wohl auch die Panik her.

Da aber jede Geschichte eine Moral haben sollte: Wenn sie ein fremdes Kind aus dem Sichtfeld seiner Eltern mitnehmen, sagen Sie ihnen einfach Bescheid, auch wenn es selbst meint, dass das nicht nötig sei. Es ist nötig.

Herzlichst, Ihr Rock Galore

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Kunst kommt von Können

Schon GEZahlt? - Ein Plädoyer für den Rundfunkbeitrag

Der Tragikomödie zweiter Teil